Vor kurzem wurde der IQB-Bildungstrend 2021 veröffentlicht, der im Auftrag der Kulturministerkonferenz die Kompetenzen der Kinder der vierten Klassen erfasst. Im Vergleich zu 2016 zeigt sich ein deutlicher Leistungsrückgang in den Bereichen Zuhören, Lesen, Orthografie und Mathematik, ein weiteres Auseinanderklaffen der Bildungsschere zwischen Kindern aus privilegierten und sozioökonomisch benachteiligten Familien und ein stark unterdurchschnittliches Abschneiden von NRW. Dies alles überrascht Eltern nicht!
Wer die Schuld allein in den Einschränkungen während der Corona-Zeit oder in den Problemfeldern Migration und Inklusion sieht, macht es sich zu einfach. Natürlich ist es eine Herausforderung im Gemeinsamen Lernen zu unterrichten und mit Kindern zu arbeiten, die von ihren Familien – mit und ohne Migrationshintergrund – nicht in angemessener Weise auf die Schule vorbereitet und Tag für Tag begleitet werden können. Inklusion und Integration werden nicht ohne zusätzliche Ressourcen gelingen. Die Schulen brauchen einerseits Räume und eine zeitgemäße digitale Ausstattung, andererseits genügend Personal. Dies gilt insbesondere in den Brennpunkten, wo sonst immer mehr Lehrkräfte aufgeben und Bildungsstandards endgültig nicht mehr erreicht werden können.
Das Problem in NRW ist, dass die aktuellen Herausforderungen auf ein seit Jahrzehnten im bundesweiten Vergleich unterfinanziertes Schulsystem treffen. Lange wurde ein Ausweg darin gesucht, mithilfe von nicht evaluierten pädagogischen Experimenten das Lernen vermeintlich zu erleichtern. Tatsächlich hat dies meist dazu geführt, dass Kinder ohne häusliche Unterstützung noch weiter abgehängt wurden. Daher sind wir sehr dankbar, dass die neue Schulministerin in NRW die Ergebnisse es IQB zum Anlass nimmt, alles schonungslos auf den Prüfstand zu stellen. Wir raten dabei, von den Erfahrungen Hamburgs zu lernen, das sich in den letzten zehn Jahren deutlich verbessern konnte:
- Kinder, die gefährdet sind, abgehängt zu werden, möglichst früh, schon in Kita
und Grundschule in den Kernkompetenzen fördern; - Teilnahme an der Förderung verbindlich machen;
- Maßnahmen regelmäßig evaluieren.
In der aktuellen Situation, in der viele Kinder und Jugendliche mit Defiziten zu kämpfen haben, sei es in ihrer psychosozialen Entwicklung, sei es durch nicht erlernten Schulstoff, sei es durch frische Zuwanderung ohne Deutschkenntnisse, muss zusätzliche Förderung auch an weiterführenden Schulen stattfinden. Damit sie passgenau ist, sollte die Förderung durch Lehrkräfte der Schule erfolgen. Auch die leistungsstärkeren Kinder und Jugendlichen dürfen nicht vergessen werden. Ihnen können z.B. Angebote zum Peer-Learning gemacht werden. Die Aufgabe ist aber insgesamt so groß, dass die Schulen sie nicht allein bewältigen können. Es bedarf einer gemeinschaftlichen Anstrengung aller Beteiligten. Auch die Ausbildungsbetriebe des dualen Systems sowie die Hochschulen müssen sich mit der Situation auseinandersetzen und Wege finden, bei der Bewältigung zu helfen.
Vor allem aber bedarf es einer Entlastung der Lehrkräfte, damit sie sich auf ihren Unterricht konzentrieren können. Die administrativen Aufgaben nehmen zu. Doch statt den Schulen entsprechende Fachkräfte an die Seite zu stellen, wurden in vielen Kommunen Sekretariatsstellen zusammengestrichen. Eine Verstetigung der Schulsozialarbeit – wie von der LEK NRW und weiteren Verbänden schon vor dem ersten großen Flüchtlingszuzug im Jahre 2005 gefordert – steht immer noch aus.
Lernen funktioniert nicht ohne Zeit zum Üben. Dieses findet immer häufiger im Rahmen des Ganztags statt. Ein entscheidender Faktor, um die Bildungsschere wieder zu schließen, ist eine enge Verzahnung von Schule und Ganztag, damit auch Kinder aus weniger privilegierten Familien eine passgenaue Hilfe erhalten. Dies gelingt bislang vor allem im gebundenen Ganztag, da hier der Nachmittag nicht von einem anderen Träger verantwortet wird. Zusätzliches Personal für solche nachrangige pädagogische Unterstützung kann durch Fort- und Weiterbildung von bereits in der Schule in Betreuung und Lernbegleitung tätigen Personen generiert werden. Klare Rahmenkonzepte würden für Verlässlichkeit sorgen und den Beschäftigten eine berufliche Perspektive eröffnen. Die dann entstehenden Synergien wären noch größer, wenn man auch Eltern als Partizipationspartner einbezöge.
Nur durch stete Evaluation lässt sich eine Flickschusterei mit immer neuen Förderprogrammen verhindern. Wie wichtig dies ist, sehen wir aktuell an dem Programm „Aufholen nach Corona“, dessen Mittel mancherorts verpuffen, wenn sie in einer Weise eingesetzt werden, von der die Kinder nicht profitieren.
Dabei muss klar sein, dass nicht wieder eine Legislaturperiode verstreichen darf, bevor in den Schulen ein Mehrwert ankommt. Die Kinder und Jugendlichen brauchen jetzt Unterstützung. Gelingen wird dies nur, wenn unter Verzicht auf das übliche Zuständigkeits-Pingpong ein Konzept aus einem Guss die Verantwortung für Schule übernimmt.
Vorstand LEK NRW
Dortmund, 23. Oktober 2022