Offener Brandbrief: Nöte von Schattenfamilien und Schulen

Sehr geehrter Herr Minister Lauterbach,
sehr geehrte Frau Ministerin Stark-Watzinger,
sehr geehrte Damen und sehr geehrte Herren,

wir wenden uns an Sie mit den Sorgen und Nöten von Eltern im gesamten Bundesgebiet.
Nach 2 Jahren Pandemie sollten alle Politiker verstanden haben, wie systemrelevant Schulen sind. Die Institution Schule ist für erwerbstätige Eltern, insbesondere wenn sie selbst in systemrelevanten Berufen arbeiten, von fundamentaler Bedeutung. Auch Kinder, deren Versorgung zuhause nicht gesichert ist, sind unabdingbar auf Präsenzangebote angewiesen. All dies dürfte hinreichend bekannt sein. Daher ist es für uns nicht nachvollziehbar, wieso Schulen hierzulande immer noch nicht zur kritischen Infrastruktur zählen. Angesichts des exponentiellen Wachstums von Omikron-Infektionen ist zu befürchten, dass in den kommenden Tagen gerade kritische Infrastrukturen nicht aufrechterhalten werden können, weil Schulen und Kindergärten nicht verlässlich offengehalten werden können.

Heute möchten wir Ihre Aufmerksamkeit auch auf eine Gruppe von Familien richten, die im öffentlichen Diskurs über den Schutz vulnerabler Personen kaum eine Rolle spielen: Die sogenannten Schattenfamilien, in denen Kinder mit hoher Vulnerabilität leben. Es handelt sich um minderjährige Vorerkrankte, die nicht geimpft werden können oder die trotz Impfung schwer erkranken könnten. Diesen Kindern kann vielfach immer noch kein für sie sicherer Präsenzunterricht angeboten werden. Hinzuzählen könnte man auch alle Kinder unter 12 Jahren, weil dafür keine gesicherte Stiko Empfehlung vorliegt. Aber die Familien mit vorerkrankten Kindern, werden – häufig gezwungenermaßen – sie trotzdem in die Schule zu schicken, leben in ständiger zermürbender Angst vor einer Infektion. Sie haben auch kein Recht auf eine häusliche pädagogische Hilfe. In den meisten Schulgesetzen haben zwar Kinder bei einer länger als 6 Wochen dauernden Erkrankung einen Anspruch auf Unterstützung zum Beispiel durch eine Kranken- oder Klinikschule oder Hausbesuch. Da diese Schattenkinder aber nicht akut erkrankt sind, sondern nur durch eine Infektion
gefährdet wären, wird ihnen dieses Recht abgesprochen. Es besteht auch kein Anspruch auf Hybridunterricht (und eine entsprechende digitale Ausstattung der Kinder wie ihrer Schule) oder Unterricht in Kleinstgruppen in ihrer Schule, was beides nicht nur ihre Bildung, sondern auch ihre soziale Teilhabe gewährleisten würde. Doch um die Kinder betreuen und selbst unterrichten zu können, müssen Eltern ihren Beruf aufgeben und geraten so in existenzielle Bedrängnis. In manchen Bundesländern sind die Eltern darüber hinaus gezwungen, monatlich neue Atteste darüber zu erbringen, dass ihre Kinder durch die chronische Erkrankung immer noch besonders gefährdet sind.

Die Größe des Problems wird häufig verkannt, da vulnerable Kinder mit Schüler*innen an Förderschulen gleichgesetzt werden. Kinder, die eine Förderschule mit ihren meist deutlich kleineren Gruppengrößen besuchen, geht es tatsächlich etwas besser, sofern die Schule nicht mit dem Hinweis auf fehlende Ausstattung dazu auffordert, vulnerable Kinder zu Hause zu lassen. Doch viele Schattenkinder besuchen keine Förderschule, da sie weder eine Behinderung noch einen Förderbedarf haben. Und viele Kinder auf Förderschulen zählen nicht zu den vulnerablen Personen. Tatsächlich ist die betroffene Gruppe keineswegs marginal. Laut Statistik des RKI sind allein in der Altersgruppe zwischen 12 und 17 Jahren
rund 200.000 vulnerable Jugendliche erfasst. Insgesamt geht man von ca. 500.000 Kindern aus.

Seit Monaten versuchen die einzelnen Landesverbände, die jeweiligen Schulministerien auf den Bedarf dieser Kinder aufmerksam zu machen und Lösungen zu erstreiten, die das Recht auf Bildung, Betreuung und Teilhabe garantieren. Entspannter wäre die Situation, wäre es gelungen, den Schulraum generell sicherer zu machen und alle Klassenräume mit wirksamen Filtergeräten auszustatten, die nachweißlich das Infektionsrisiko minimieren könnten, eine Anpassung der Lüftungsintervalle und damit auch ein besseres Raumklima ermöglichen
würden. Von diesen Vorteilen könnten dann auch alle anderen Kinder profitieren und
Schulen verlässlicher machen. Des Weiteren wäre eine kostenfreie Ausstattung mit FFP2-Masken hilfreich. Für jüngere Kinder sind immer noch keine gut geeigneten FFP2-Masken auf dem Markt. Hier kann nur eine Beauftragung zur Herstellung entsprechender kindergerechter und geeigneter Masken durch die Bundesregierung helfen.

Die Omikron-Welle verunsichert viele Eltern. Besonders Familien, die schon von schweren Corona-Erkrankungen betroffen waren, haben Angst vor einer erneuten Infektion und reagieren mit Unverständnis, wenn sie erfahren, dass der Bundestag seine Sitzungen aussetzt, Kinder aber weiterhin zur Schule gehen müssen. Auch der Umstand, dass Schülern und Schülerinnen, sofern sie keine Förderschule besuchen, neuerdings PCR-Einzeltests vorenthalten werden, macht viele Eltern wütend und lässt den Ruf nach einer Aufhebung der Präsenzpflicht immer lauter werden. Das neue Testregime erschwert insbesondere die Teilhabe der vulnerablen Kinder. Wir sprechen uns dennoch gegen eine allgemeine Aussetzung der Präsenzpflicht aus, da es für viele Kinder wichtig ist, die Schule besuchen zu dürfen und aus der besagten Betreuungsnot. Wir fordern aber die Aufhebung der Präsenzpflicht für vulnerable Schülergruppen und Kinder oder mit vulnerablen Familienmitgliedern, weil die Länder nicht ausreichend Vorkehrungen getroffen haben, um diese Personen zu schützen, um die Teilhabe zu sichern.

Besorgniserregend für die Schattenfamilien ist der Trend zu einer Forderung nach Einstellung der Testungen oder Aufhebung der Beschränkungen. Die Rechte der Menschen mit chronischen Vorerkrankungen mit und ohne Behinderung finden im öffentlichen Diskurs kaum noch Beachtung. Wir erlauben uns deshalb, daran zu erinnern, dass die Bundesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat. Vulnerable Kinder dürfen nicht einfach als Kollateralschaden einkalkuliert werden.

Wären Schulen beizeiten als kritische Infrastruktur eingestuft worden, wären wir jetzt in einer anderen Lage. Man hätte sichere kindgerechte Testkapazitäten vorgehalten, alle Schulen genau wie Bundestags- und Landtagsgebäude mit Filteranlagen ausgestattet, Schülerinnen und Schülern genau wie Lehrern sichere Masken zur Verfügung gestellt, Schulen und Kinder mit Internet und Geräten versorgt, die für Hybrid-Unterricht nötig sind. Bei ihrer Amtsübernahme, Herr Minister Lauterbach, hatten wir Hoffnung, dass sie als Mediziner ein besseres Verständnis für die Probleme der Schattenfamilien hätten. Doch leider müssen wir schmerzlich feststellen, dass es bis jetzt keinerlei Anstrengung seitens der Bundesregierung gibt, die Teilhabe dieser Schülerinnen und Schüler zu sichern.

Deshalb bitten wir Sie als Bundesgesundheitsminister und die Bundesbildungsministerin eindringlich, Schulen als kritische Infrastruktur anzuerkennen. Fördern Sie die Nachrüstung der Schulen, sodass Schulraum Sicherheit für die Teilhabe und Bildung aller Kinder gibt.

Wir fordern:

  • Nachrüstung aller Schulen mit wirksamen Filtergeräten,
  • kostenlose Bereitstellung kindgerechter und sicherer FFP2-Masken für vulnerable
    Gruppen und alle Kinder die sie nutzen möchten,
  • kindgerechte und sichere PCR-Lolli- oder Gurgel-Testungen für alle Kindergärten,
    Grundschulen und Förderschulen,
  • Präsenzbefreiung von vulnerablen Kindern und Kindern mit vulnerablen Angehörigen,
  • häusliche pädagogische Unterstützung,
  • alternativ die Möglichkeit, an Hybrid-Unterricht teilzunehmen, was eine digitale
    Aufrüstung der Schulen und die Bereitstellung digitaler Endgeräte für alle Kinder
    erforderlich macht.

Inzwischen hat sich die Elternschaft in zwei große Lager aufgeteilt, jenes, das auf die
Institution Schule in jedem Fall angewiesen ist, und jenes, das den Schulbesuch derzeit als zu riskant einschätzt. In ihrer Frustration über fehlende Verlässlichkeit und Planbarkeit und das Hintanstellen ihrer Sorgen und Bedürfnisse sind die beiden Lager aber geeint. Der geballte Zorn richtet sich gegen Ministerien, aber auch Schulen oder uns als Verbände. Wir gehen aber davon aus, dass Ihnen, genau wie uns, Kinder am Herzen liegen und bewusst ist, dass unsere Kinder die Goldreserve der Bundesrepublik sind.

In der Hoffnung, dass es Ihnen möglich ist, Schulen zur kritischen Infrastruktur zu erklären und so die Hoheit über die Sicherung der Teilhabe zu erlangen, erwarten wir zeitnah ein klares Signal für unsere Kinder, insbesondere aber die, die bislang im Schatten stehen Familien.

Wir erwarten eine zeitnahe Rückmeldung.

Mit vorzüglicher Hochachtung

LEK NRW Vorstand

Anke Staar , Christian Beckmann , Karla Foerste , Markus Sawicki

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(chbe)

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